Was passiert nach einem möglichen Brexit in Brüssel? Zunächst nicht viel, denn die Scheidung von den Briten würde Jahre dauern. Niemand weiß etwas Genaues. Aus der EU-Hauptstadt Bernd Riegert.
Der Wirt des Pubs "The Old Hack" direkt gegenüber der Zentrale der EU-Kommission in Brüssel bleibt gelassen. Ein Brexit, also ein Austritt Großbritanniens aus der EU nach 43 Jahren Mitgliedschaft, würde sein Geschäft nicht groß beeinflussen. "Getrunken wird immer", scherzt der aus Irland stammende Geschäftsmann, während er ein helles Bier zapft. Außerdem würden die britischen Beamten in der EU-Kommission, im Auswärtigen Dienst der EU und im Ministerrat ja nicht schlagartig Brüssel verlassen. Nur einer der Stammgäste würde wahrscheinlich nicht mehr so oft ins "Old Hack" kommen: Nigel Farage, Europa-Abgeordneter der "United Kingdom Independence Party" (UKIP), der seit 1999 für den Austritt seiner Heimat aus der EU kämpft. "Der war oft hier und will noch eine große Abschiedsparty schmeißen, falls der Brexit kommt", erzählt der Wirt.
Briten könnten weiter arbeiten
Rund 1200 britische Staatsbürger arbeiten in der EU-Kommission. Nur wenige von ihnen, die einen politischen Spitzenposten als Generaldirektor innehaben, oder der EU-Kommissar für den Kapitalmarkt, Jonathan Hill, müssten wohl schnell ihre Posten räumen. Auch der britische Richter am Europäischen Gerichtshof oder der Chef der Polizeibehörde Europol, Rob Wainwright, müssten gehen. Alle anderen könnten weiterarbeiten, meint die zuständige Gewerkschaft, denn die Arbeitsverträge seien ja mit den einzelnen Menschen geschlossen worden, nicht mit dem Land Großbritannien. Pierre Bacri von der "Europäischen Beamten-Vereinigung" meinte in Brüssel, man werde eine "vernünftige Regelung" finden. Ein Brexit wäre eine schlechte Nachricht für die, die einen britischen Pass haben, meint Janis Emmanouilidis von der Denkfabrik "European Policy Centre": "Es könnte trotzdem einen Weg geben, sie weiter als Beamte arbeiten zu lassen. Aber die Jüngeren werden sich fragen, will ich wirklich in der EU arbeiten, wo mein eigenes Land nicht mehr vertreten ist? Was bedeutet das für meine eigene Karriere?"
"Ein Sprung ins dunkle Loch"
Die 73 Europaabgeordneten aus Großbritannien müssten eigentlich auch ihre Koffer packen, aber die Labour-Abgeordnete Dame Glenis Willmott geht davon aus, dass sie fast bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode 2019 bleiben könnte. Denn es würde mehrere Jahre dauern, bis die Modalitäten für einen Austritt aus der EU verhandelt sind und die Beziehungen tatsächlich gekappt würden, so Willmott im Gespräch mit der DW. "Ich nehme an, dass unsere Mitarbeiter bis zum Ende unseres Mandats bleiben können, also bis zur nächsten Europa-Wahl. Aber darüber hat mit uns eigentlich noch niemand gesprochen." Glenis Willmott macht zurzeit Wahlkampf für einen Verbleib der Briten in der EU. Dabei ginge es nicht um ihren Job, sondern um das große Ganze: "Es gibt so viel Unbekanntes. Das ist ein Sprung in ein dunkles Loch, wenn die Menschen für den Austritt stimmen. Wir wären besser dran und stärker, wenn wir weiter zusammenarbeiten."
"Eine Menge Fragezeichen"
Die EU-Kommission und auch der Ministerrat der EU, die Vertretung der Mitgliedsstaaten, äußern sich nicht offiziell zu Brexit-Szenarien. Es gebe weder einen Plan B noch Überlegungen, wie der Ausstieg verhandelt werden sollte, teilte ein Sprecher mit. Der entsprechende Paragraf 50 im Europäischen Vertrag von Lissabon sagt lediglich, dass der Mitgliedsstaat schriftlich seine Austrittsabsicht ankündigen muss, und dann innerhalb von zwei Jahren die Einzelheiten verhandelt werden sollen. Umstritten ist, ob Großbritannien in dieser Übergangsphase im Rat dann noch mitstimmen dürfte, ob es in den EU-Haushalt einzahlen müsste und ob es noch Zuschüsse aus dem gemeinsamen Haushalt in Brüssel erhält. Aus der EU-Kommission hört man hinter vorgehaltener Hand, dass Großbritannien im Fall eines Brexit mehr oder weniger sofort von Entscheidungen ausgeschlossen würde. Der EU-Experte Janis Emmanouilidis sieht das aber anders: "Bei politischen Fragen wird man sehen, ob Großbritannien sich dafür entscheidet, sich nicht mehr zu engagieren. Vom rechtlichen Standpunkt her hätte es das Recht, abzustimmen und teilzunehmen." Janis Emmanouilidis ist sich im Interview mit der DW aber auch nicht ganz sicher, wie Brexit-Verhandlungen laufen würden: "Das gab es noch nie. Man begibt sich in unbekannte Gewässer, die noch keiner erkundet hat. Es wäre das allererste Mal mit einer Menge Fragezeichen."
Rosenkrieg oder gütliche Scheidung?
Die übrigen 27 Mitgliedsstaaten würden Großbritannien den Ausstieg aus der EU nicht allzu leicht machen wollen. Da ist sich Janis Emmanouilidis vom "European Policy Centre" allerdings sicher. Welches Verhältnis die EU und ein ausgeschiedenes Vereinigtes Königreich in Zukunft pflegen würden, ist unklar. "Es wird ein langer und anstrengender Prozess, von dem wir nicht wissen, wie lange er eigentlich dauern wird. Es ist kein nettes Verfahren, dem wir dann zuschauen müssen." Auch die Europa-Abgeordnete Glenis Willmott ist unsicher, wie es nach einer Scheidung von der EU weitergehen sollte. Die Brexit-Befürworter hätten dafür keinen Plan. "Wenn man mit den Leuten von der 'Austreten'-Seite spricht, dann haben sie keine Ahnung und keine Antworten, welches Verhältnis wir dann zu Europa haben würden. Wäre es ein Freihandelsabkommen? Hätten wir einen Status wie Norwegen? Wir haben überhaupt keine Vorstellung, was passieren würde."
Rückkehr zur EFTA?
Nigel Farage, Brexit-Kämpfer von der UKIP, will, dass ein souveränes Großbritannien weiter Handel mit dem Rest Europas treibt, aber natürlich ohne weiter für Europa zahlen zu müssen. Großbritannien könnte theoretisch wieder der EFTA beitreten. EFTA ist eine europäische Freihandelszone, der im Moment Norwegen, Liechtenstein, die Schweiz und Island angehören. Diese Länder genießen freien Zugang zu den EU-Märkten und können an EU-Programmen teilnehmen. Sie dürfen jedoch nicht mitentscheiden. Und sie müssen eine Art Mitgliedsbeitrag zahlen. Norwegen zum Beispiel zahlt nach Angaben der norwegischen Botschaft in Brüssel jährlich 866 Millionen Euro in den EU-Haushalt ein.
Nummer 10: Nicht Downing Street, sondern Ave. d'Auderghem. Die britische EU-Vertretung würde schrumpfen, aber nicht ganz aufgelöst
Würde man diesen Beitrag an die Bevölkerungsgröße und die Wirtschaftsleistung Großbritanniens anpassen, würde sich ein EFTA-Beitrag von fast neun Milliarden Euro ergeben. Das wären nur zwei Milliarden Euro weniger als die heutigen Nettozahlungen des Vollmitgliedes Großbritannien in den EU-Haushalt. Bis zu ihrem Beitritt zur EU im Jahr 1973 waren die Briten schon einmal Mitglied in der Europäischen Freihandelsgemeinschaft.
In Brüssel sind kurz vor dem Referendum über den möglichen Brexit viele Fragen offen. Die britischen Bürger in Brüssel und die EU-Institutionen verfahren nach dem geflügelten britischen Wort: "Keep calm and carry on!" Aber die Nervosität wachse langsam, glaubt der EU-Experte Janis Emmanouilidis. Und es gibt ja noch eine Hintertür: "Viele Briten werden ihr Recht nutzen und die belgische Staatsbürgerschaft erwerben. Oder sie nehmen die Nationalität ihrer Ehepartner an, sofern diese nicht Briten sind."
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