Pflegekräfte protestieren an der Berliner Charité. Kostendruck im Krankenhaus Aufstand der Pfleger

Kostendruck im KrankenhausAufstand der Pfleger

Am heutigen Sonntag ist der Welttag der Kranken. Die Politik will den Kollaps in den Kliniken abwenden und eine Mindestzahl von Pflegekräften vorschreiben. Das wird teuer. Doch längst begehren die überlasteten Helfer auf.
© Christian O. Bruch/ laif
Von Kristina Gnirke
Pflegekräfte protestieren an der Berliner Charité
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Pflegekräfte protestieren an der Berliner Charité
Nachts ist es am Schlimmsten. Dann spielt Katja Gerhart Lotterie mit dem Leben der Patienten. Manche Menschen auf ihrer Station können sich kaum bewegen, ringen nach Luft oder ihr Herz gerät aus dem Takt. Verwirrt fallen Demente aus dem Bett.
Eine Nacht kann Gerhart nicht mehr vergessen. 24 Patienten liegen auf der Station der Krankenpflegerin. Gerhart ist alleine mit ihnen. Sie bewältigt kaum das Nötigste. "Am Morgen danach saß ich heulend da", erzählt sie.
Eine Frau schafft es nicht zur Toilette. Sie klingelt nach der Schwester. "Kaum bin ich bei ihr, läuten drei andere Patienten", sagt Gerhart. Die erste Patientin muss warten, am Ende eine Stunde. Gerhart sieht all die Alarme. Aber wo ist es kritisch? Wer braucht zuerst Hilfe? Sie schätzt ab, wählt die Tür einer Patientin und hofft, dass in keinem anderen Zimmer jemand kollabiert.
Viele Male muss die Pflegerin in dieser Nacht ihre Wahl treffen. Nicht eine Pause schafft sie. So ist es oft, nicht nur in Gerharts Krankenhaus. Seit zehn Jahren pflegt die 31-Jährige im Saarland Klinikpatienten und die Lage wird prekärer. "Jedes Jahr kümmern sich weniger Pflegende um mehr Patienten", sagt sie.
Doch etwas hat sich geändert: Der Frust der Pfleger hat sich aufgestaut, in den Pausen wird nicht mehr nur geklagt. Während der Schichtübergaben schmieden Schwestern und Pfleger Abwehrpläne. Gerharts Station hat gerade zum ersten Mal gestreikt.
Ein Aufstand der Pflegenden überzieht Deutschland
In Berlin haben sich die Spitzen von Union und SPD nach Jahren des Lavierens durchgerungen, eine Katastrophe zu verhindern. Eine Mindestzahl von Pflegekräften wollen sie für einzelne Klinikstationen festlegen, sobald die neue Große Koalition steht. Es sind teure Pflegeuntergrenzen. Doch eine Wahl gibt es nicht mehr für die Politik. Die Lage droht zu eskalieren.
Ein nie dagewesener Kampfgeist hat Krankenhäuser in ganz Deutschland erfasst. Ausgehend von der Berliner Charité, an der Pflegekräfte mit Streiks feste Personalschlüssel durchgesetzt haben, begehrt das Personal an Kliniken in Bayern und Baden-Württemberg, in Norddeutschland und Nordrhein-Westfalen auf: Augsburg, Dachau, Tübingen, Freiburg, Heidelberg und Ulm, Essen, Düsseldorf, Hannover. Mancher Krankenhausbetreiber versuchte, sich vor Gericht gegen Streiks zu wehren - und verlor.
Klinik-Pflegekräfte streiken
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Klinik-Pflegekräfte streiken
Im Saarland breitet sich eine Protestwelle aus, wie sie deutsche Kliniken noch nicht gesehen haben. An allen 21 Krankenhäusern streiken Pflegende, sie fordern mehr Personal, stellen Ultimaten und drohen mit Dienst nach Vorschrift: Pausen einhalten, keine Überstunden, keiner springt in der Freizeit ein. Dann würde die Versorgung vollständig zusammenbrechen.
"Bei mir und vielen anderen hat sich ein Schalter umgelegt. Wir haben den Mut gefunden, uns zu wehren", sagt Gerhart. "Es muss sich jetzt etwas ändern. Sonst kippt alles."
Kliniken drohen Sanktionen bei niedrigen Pflegestellen
Der Aufstand stellt das Versagen der deutschen Gesundheitspolitik bloß. Es fehlen rund 100.000 Pflegestellen in Deutschland, rechnet Michael Simon, Professor für Gesundheitspolitik an der Hochschule Hannover, in einer aktuellen Analyse vor: "Wir haben haarsträubende Verhältnisse in unseren Krankenhäusern." 2016 warnte der Deutsche Ethikrat davor, auf die Ökonomie an Kliniken zu fokussieren und damit das Patientenwohl zu gefährden.
Keine Bundesregierung hat das nahende Desaster am Krankenbett aufgehalten. Die Finanzierung über Pauschalen pro Behandlungsfall hat die Katastrophe sogar noch befeuert: Als Folge haben Krankenhäuser zwar investiert, aber vor allem in mehr Ärzte. Denn die bringen Geld rein mit immer mehr Operationen. Davon bestreiten Kliniken auch Investitionen in ihre Gebäude, für die per Gesetz eigentlich die Länder aufkommen sollten. Doch die Länder zahlen nur knapp drei Milliarden Euro - weniger als die Hälfte des jährlichen Bedarfs.
Nun klafft eine Lücke. Denn gespart wurde an den wenig lukrativen Pflegekräften: Seit 1995 haben die Kliniken fast 60.000 Vollzeitstellen für Ärzte aufgebaut, gleichzeitig strichen sie rund 25.000 Pflegejobs. Obwohl es im Jahr fast vier Millionen Behandlungsfälle mehr gibt, wie Frank Weidner, Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (dip), sagt: "Wir haben schon vor 15 Jahren vor der Dramatik der Pflegesituation gewarnt. Doch in der Politik wollte lieber niemand zuhören - denn der Personalaufbau ist teuer."
Mehr Ärzte, weniger Pflegekräfte
Prozentuale Veränderung in allgemeinen Krankenhäusern von 1995 bis 2016
Vollkräfte PflegedienstVollkräfte hauptamtl. ärztliches PersonalZahl der BehandlungsfälleKrankenhäuser19951996199719981999200020012002200320042005200620072008200920102011201220132014201520160-50-25255075
Quelle: Gesundheitsberichterstattung (GBE) des Bundes
Wie soll die Umkehr gelingen? Ausgerechnet Krankenkassen und Kliniken hat der bisherige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) überlassen, die Höhe der Pflegeuntergrenzen festzulegen. Also denen, die am liebsten Kosten drücken. Die bisherigen Gespräche zeigen schon, was dadurch schiefläuft: Kassen und Kliniken wollten Pflege-Mindestzahlen zuerst nur für sechs Stationstypen festlegen, natürlich für lukrative.
Das hat die SPD nun verhindert. Jetzt sind strikte Personalvorgaben für alle Stationen geplant. Zudem sollen die Kosten des Pflegepersonals künftig unabhängig von Fallpauschalen erstattet werden - das würde das Sparen an der Pflege unattraktiver machen.
Sollten die Krankenhäuser sich den neuen Vorgaben widersetzen, drohen ihnen Strafen. Es werde für die Kliniken Sanktionen geben, wenn sie die Untergrenzen nicht einhielten, droht die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD). "Sie müssen damit rechnen, dass dies veröffentlicht wird und sich auf den Krankenhausplan des jeweiligen Bundeslands auswirken kann."
Die Frage ist nur, ob Kassen und Kliniken die Mindestzahl von Pflegenden überhaupt hoch ansetzen werden.
"Das ist gefährliche Pflege"
Elisabeth Schwane* sieht den Verfall in den Kliniken seit 40 Jahren. Als sie anfing, hatte die Krankenpflegerin etwa 2500 Kollegen, heute sind es nur noch 1500. Besonders die Kinderintensivpflege macht der 61-Jährigen zu schaffen. Viele Kinder hier haben Herzoperationen oder schwere Eingriffe an der Lunge hinter sich. Da viele Krankenhäuser im Umland die Zahl ihrer Betten reduziert haben, kommen mehr Kinder in dieses Krankenhaus.
Doch die Klinik spart, hat zu wenig Betten, zu wenig Pfleger. "Da werden winzig kleine Frühchen gebracht, die sofort einen Beatmungsplatz brauchen. Doch dort liegt noch das Herzkind mit der OP von gestern. Wir müssen es Stunden oder Tage zu früh von der Maschine entwöhnen", sagt Schwane. Manches Kind hat noch kaum die Kraft, selbst zu atmen.
"Das ist gefährliche Pflege", sagt Schwane. Manche ihrer Kolleginnen weinen am Abend.
Die Regierung duckt sich weg
Wie Hohn müssen Pflegenden wie Schwane die kürzlichen Worte von Gesundheitsminister Gröhe erscheinen: "Die erfolgreiche Pflegepolitik der letzten Jahre werden wir jetzt entschlossen fortsetzen."
Politik und Krankenkassen war es zu teuer, den Engpass wirklich zu beheben. 1993 wollte die Regierung die Pflegesituation schon einmal verbessern und machte die Pflege-Personalregelung zum Gesetz. Jede Klinik erfasste den Pflegebedarf jedes Patienten im Detail. Als herauskam, dass Zehntausende Stellen fehlten, wurde die Regel vier Jahre später wieder eingestampft.
Jetzt ist der Mangel noch gravierender. Ihn zu beheben, wird kostspieliger - und schwieriger. Denn mittlerweile wollen immer weniger Menschen in der Klinikpflege arbeiten. Viele Kräfte quittieren vor der Rente ihren Job oder flüchten in Teilzeit. Auszubildende geben reihenweise in den ersten Jahren auf.
Tim Umhofer gehört zu denen, die aufgestanden sind gegen die Zustände. Der 24-jährige Krankenpfleger hat erst vor zwei Jahren seine Ausbildung beendet und streikte Anfang Oktober schon erstmals mit Kollegen der katholischen Marienhausklinik Ottweiler. "Ich bin nachts allein mit 30 Patienten, tagsüber mit der Hälfte. Nach manchen Schichten merke ich, dass ich nicht einmal ein Glas Wasser in den acht Stunden getrunken habe", sagt er.
"So will keiner pflegen, so will keiner gepflegt werden"
Wie wenig Zeit für die Patienten da sei, habe ihn schockiert. Im Beruf würde er gerne bleiben, aber nicht so wie jetzt, sagt Umhofer. Er überlegt, ob er studieren soll. Unter diesen Bedingungen will er nicht lange auf einer Station arbeiten. Das kann er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. "So will keiner pflegen, so will keiner gepflegt werden."
Den Mitarbeitermangel nutzen die Kliniken nun als Argument, um sich vor den geforderten Mindestbesetzungen zu drücken. "Die Untergrenzen erzeugen keine Pflegekräfte", kritisiert Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Bis zu 15.000 Pflegestellen seien unbesetzt in den Krankenhäusern. Die Zahl der Ausbildungsplätze könne den künftigen Bedarf nicht decken.
Wie auch? Sie sanken in den vergangenen zehn Jahren um 7000. Baum ficht das nicht an. "Ich sehe nicht, wie wir die Auszubildendenquote wesentlich erhöhen können", sagt er. Die Kliniken stünden bei der Pflege in Konkurrenz mit vielen anderen Berufen. "Wir schaffen es nicht von heute auf morgen Menschen dazu zu bringen, die Pflegeausbildung zu durchlaufen."
Die geforderten Personalgrenzen müssten flexibel definiert werden, fordert Baum daher. Keiner könne erwarten, dass Kliniken in jeder Situation die Untergrenzen gewährleisteten. Sonst müssten ganze Abteilungen geschlossen werden. Die DKG will, dass die Kliniken die geforderten Pflegezahlen nicht für jeden Tag, sondern nur im Jahresdurchschnitt nachweisen müssen.
Das kritisiert die Gewerkschaft Ver.di: Dann würden etwa auch kranke Pflegekräfte aufgeführt, als wären sie im Einsatz. Jahresdurchschnittszahlen sähen auf dem Papier schick aus, sagt Johann-Magnus von Stackelberg, Vizechef des Krankenkassen-Spitzenverbands. "Sie helfen dem einzelnen Patienten mit seinem individuellen Pflegebedarf jedoch nicht."
Den Teufelskreis durchbrechen
Die Ausweichmanöver der Krankenhäuser sieht auch Hamburgs Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks kritisch. Wegen der schlechten Arbeitsbedingungen verlören die Kliniken Pflegekräfte, das mache es für die verbleibenden noch schlimmer. "Wenn wir diesen Teufelskreis nicht durchbrechen, werden wir nicht genügend Pflegekräfte haben, um unsere medizinische Versorgung sicherzustellen."
Das spüren auch die Krankenhäuser: Mitte Januar reagierte die Uniklinik in Homburg auf das Ultimatum der Pflegenden der Krebsstation, die 4,5 mehr Stellen forderten, und genehmigte immerhin 2,5. Die Uniklinik Gießen Marburg schafft nach Protesten 100 neue Jobs und will Unterbesetzung auf Stationen bestrafen. "Da kommt Bewegung rein, es sind Lösungsmöglichkeiten da", sagt Grit Genster, Ver.di-Bereichsleiterin Gesundheitspolitik.
Erstmals bemerken die Pflegekräfte, dass sie auch Macht haben. "Es brauchte erst den Mut der Verzweiflung, damit wir uns wehren", sagt Pflegerin Gerhart. Diesen Kampfgeist wird auch die neue Regierung fürchten lernen.
* Name geändert
Zusammengefasst: Sie sind erschöpft und ausgelaugt - jetzt setzen sich bundesweit Pflegekräfte in Krankenhäusern zur Wehr. Sie stellen ihren Arbeitgebern Ultimaten und streiken für mehr Pflegepersonal auf den Stationen. Jahrelang bauten die Kliniken Arztstellen auf und Pflegejobs ab. Nun läuft das Krankenhaussystem auf eine Katastrophe zu. Union und SPD versuchen sie noch abzuwenden: mit Untergrenzen für Pflegepersonal. Doch es wollen sich kaum mehr Menschen dem Klinikdruck aussetzen, es ist ein Teufelskreis entstanden.

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