Verzicht auf Ministeramt Der traurige Fall des Martin Schulz

Noch-SPD-Chef Martin Schulz, Andrea Nahles
Martin Schulz gibt aufgrund des innerparteilichen Aufruhrs seine Träume vom Außenamt auf. Hinter den Kulissen eines Plans, der innerhalb von vier Wochen spektakulär scheiterte.

Martin Schulz soll jetzt eigentlich noch kämpfen. Seine Termine an der Basis stehen, mit Andrea Nahles, der designierten Parteivorsitzenden, soll er in der kommenden Woche vor den Mitgliedern um Zustimmung zur Großen Koalition werben. Das ist einigermaßen absurd, weil ja nun klar ist, dass Schulz bald raus ist. Parteivorsitz weg, Außenamt adé. Und trotzdem noch kämpfen? Nach diesem Jahr? Und nach diesen letzten vier Wochen?

Der Fall des Martin Schulz sucht in der deutschen Politik seinesgleichen. Seine Causa zeigt nicht nur, wie unerbittlich und brutal die Politik sein kann, sondern auch, wie schnell man sich auf dem Berliner Parkett verkalkulieren kann. Am Anfang glaubte Schulz, mit seiner unkonventionellen Art eine neue Note in die Politik bringen zu können. Am Ende versuchte er seinen Abschied vom SPD-Vorsitz so einfädeln zu können, dass die Partei glücklich ist und er selbst dabei nicht ins Bodenlose fällt.

Alle Vorhaben sind schiefgegangen. Die Partei zittert völlig verunsichert dem Mitgliedervotum entgegen. Und er sitzt künftig als einfacher Abgeordneter im Bundestag. Welch eine Tragik.
Schulz' Aus kommt nicht über Nacht, es ist der Schlusspunkt eines wochenlangen Prozesses, der in weiten Teilen jenseits der Öffentlichkeit stattfindet. Mitte Januar fängt es an, in Schulz zu gären. Die Sondierungsgespräche mit der Union sind beendet. Schulz ist ausgelaugt. In der Presse heißt es, er habe schlecht verhandelt. Als "gutes Ergebnis", bezeichnet er nach außen das Sondierungspapier, doch innerlich wachsen seine Zweifel daran, ob er noch der richtige Vorsitzende ist. "Kann sein, dass ich bald weg bin. Ich weiß nicht, ob wir für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen eine Mehrheit kriegen", sagt er, als er im kleinen Kreis die Lage erörtert.

Schulz registriert, dass sich im Hintergrund eine Bewegung formiert, die von ihm verlangt, auf dem Parteitag in Bonn am 21. Januar, der über Verhandlungen mit der Union abstimmen soll, den Verzicht auf einen Kabinettsposten zu erklären. Er soll das Opfer bringen, um der SPD wieder mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Führende Sozialdemokraten testen, ob er dazu bereit wäre. Sie verweisen darauf, dass er ja nach der Wahl ausgeschlossen habe, in ein Kabinett von Angela Merkel zu gehen. Aber Schulz wittert, dass das nur ein Hebel sein soll, um ihn loszuwerden.

Fünf Tage vor dem Parteitag macht sich Schulz von Berlin auf den Weg nach Düsseldorf, um vor den dortigen Delegierten für Verhandlungen mit der Union zu werben. Auf dem Weg zum Flughafen Tegel spricht er mit einem seiner Stellvertreter über die Lage. Er hat sich zuvor mit der Kanzlerin getroffen und ihr gesagt, dass man inhaltlich in der Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik noch Zugeständnisse brauche, wenn man nicht an den SPD-Mitgliedern scheitern wolle. Schulz kann sich inzwischen vorstellen, die Macht zu teilen, aber er will nicht abserviert werden, sondern selbstbestimmt seine Zukunft organisieren. "Wenn es jemanden gibt, der nur den Parteivorsitz machen will - bitte sehr. Wir können das morgen regeln", sagt er seinem Vize am Telefon. Es ist eine Drohung. Wenn ihr jetzt an mir sägt, eskaliert der Parteitag. Niemand aus der SPD-Führung hebt den Finger.

Kurz vor dem Parteitag lädt er Andrea Nahles in sein Büro im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses. Schulz vertraut ihr, es imponiert ihm, wie loyal sich die Fraktionsvorsitzende ihm gegenüber seit der Wahl verhalten hat. "Lass uns mal offen über die Situation reden", sagt Schulz zu Nahles, als sie im Willy-Brandt-Haus vor ihm sitzt. Dann skizziert er die Optionen: Weitermachen und politisch langsam sterben. Oder einen Schnitt planen in naher Zukunft, der die Partei stabilisiert. "Ich glaube, Du solltest auch den Vorsitz machen", sagt er zu Nahles.

Es ist eine Idee, keine Verabredung. Aber Nahles sieht natürlich ihre Chance. Sie weiß, dass sie nicht viel tun muss, um einen Wechsel herbeizuführen. Dass ihre Ambitionen und seine Selbstzweifel zusammenfallen und sie auch noch offen darüber sprechen, lässt beide hoffen, dass man den Übergang irgendwann geräuschlos organisieren kann.


Schulz' Rede auf dem Parteitag im World Conference Center in Bonn ist auch öffentlich ein Wendepunkt. Jeder kann sehen, wie entkräftet Schulz ist. Er redet an den Delegierten vorbei, es fehlt die Vision, wie die SPD im 21. Jahrhundert politisch auf die Beine kommen kann. Der Applaus ist pflichtschuldig, die Jusos verhöhnen ihn, als er von einem Anruf Emmanuel Macrons berichtet. Es ist ein entwürdigender Moment.

Während er spricht, sitzt Andrea Nahles auf ihrem Sitz des Parteitagspräsidiums und merkt, wie sich die Stimmung im Saal verschlechtert. Vertraute schicken ihr eine SMS nach der anderen. Sie müsse einschreiten, der Parteitag gehe sonst schief. Nahles hat eine Rede vorbereitet, die ganz auf Inhalte setzt. Doch sie weiß, dass sie das Manuskript jetzt vergessen kann. Sie geht ans Pult und improvisiert. Null Inhalte, volle Emotion. Die Parteispitze erhält eine knappe Mehrheit für Koalitionsverhandlungen.

Schulz zieht am nächsten Tag mit seinem Team ein persönliches Resümee. Die Lesart ist folgendermaßen: Er steht da wie der Esel der Nation, Nahles wie die Göttin in Rot. Die Erkenntnis beschleunigt seine Pläne, den Wechsel an der Spitze vorzubereiten. Fortan spricht er mit Nahles regelmäßig über einen möglichen Zeitpunkt zum Übergang. Am Telefon, im Willy-Brandt-Haus, im Bundestag, während der Koalitionsverhandlungen.

Sie weihen Vertraute und enge Mitarbeiter ein. Beide sind sich einig, dass ihre Überlegungen nicht vor dem Ende der Koalitionsverhandlungen öffentlich werden dürfen, weil Schulz sonst seine Verhandlungsautorität verlöre.

Erst am vergangenen Sonntag streuen sie ihren Plan breiter. Als die Koalitionsverhandlungen am Mittwochmorgen beendet sind, tritt die engere Parteiführung im Willy-Brandt-Haus zusammen, um den Wechsel von Schulz zu Nahles sowie Schulz' Plan, im Falle eines erfolgreichen Mitgliedervotums als Außenminister ins Kabinett zu gehen, zu billigen. Widerspruch? Fehlanzeige. Schulz und Nahles sind glücklich. Sie glauben, ihr Coup habe funktioniert. Die Rochade sickert durch, erste Meldungen dazu laufen über die Agenturen. Mittags informiert Schulz seinen Vorgänger Sigmar Gabriel über seinen geplanten Wechsel ins Auswärtige Amt.

Bei der Pressekonferenz am Abend macht Schulz seine Absichten selbst öffentlich. Nahles bedankt sich bei ihm für die freundschaftliche Übergabe des Parteivorsitzes und stützt seine Kabinettsabsichten ausdrücklich. Die Europapolitik sei eine Herzensangelegenheit von ihm, sagt sie.

Ob es an der allgemeinen Freude über die Erfolge in den Verhandlungen oder der Müdigkeit liegt - in jedem Fall handelt es sich um ein weiteres strategisches Versagen der SPD-Spitze. Die parteiinterne Welle an Kritik, die auf Schulz' Ankündigung folgt, antizipiert offenbar niemand in der Führung. Oder lassen seine Kollegen Schulz bewusst ins offene Messer laufen? So oder so sieht die Führung der Partei nicht gut aus: Entweder agiert sie naiv - oder mit schlechten Absichten.

Kritik gibt es schon in der Sitzung des Parteivorstands kurz darauf. Aus den ostdeutschen Landesverbänden gibt es Unmut über die Ankündigung des Vorsitzenden. "Ich wünsche mir, Du würdest nicht ins Kabinett gehen", sagt Sachsens Landeschef Martin Dulig. Schulz dankt ihm für die offenen Worte in der Hoffnung, so eine breitere Debatte verhindern zu können. In der Bundestagsfraktion herrscht noch größerer Ärger. Schulz geht am Mittwochabend nach 38 Stunden ohne Schlaf erschöpft ins Bett. Aber er ist überzeugt: Der Ärger wird sich legen.

Im Verlauf des Donnerstags spitzt sich die Lage zu. Die Erfolge in den Koalitionsverhandlungen rücken in den Hintergrund. Aus Nordrhein-Westfalen - Schulz' eigenem Landesverband - kommt das Signal, die Glaubwürdigkeit des Vorsitzenden sei ein großes Thema an der Basis. "Das ist ein Diskussionspunkt auch in unserer Partei, sowohl bundesweit als auch in NRW", sagt Landeschef Mike Groschek bei einer Pressekonferenz. Was er nicht sagt: In seiner Geschäftsstelle sind zu dem Zeitpunkt schon Hunderte E-Mails enttäuschter Genossen eingetrudelt. Auch Austrittsdrohungen haben Groscheks Leute erhalten. Rund ein Viertel der SPD-Mitglieder kommen aus Nordrhein-Westfalen. Alle wissen: Je labiler die Lage dort, desto unsicherer das Mitgliedervotum über die Große Koalition. Die Causa Schulz ist in den NRW-Gremien das dominierende Thema, auch in einer Telefonkonferenz des Landesvorstands.

Am Abend verschickt Sigmar Gabriel ein Statement an die "Funke Mediengruppe", in der erder SPD-Führung Wortbruch und Respektlosigkeit vorwirft und damit insinuiert, Schulz habe ihm einst ein Versprechen gegeben, im Falle einer Großen Koalition Außenminister bleiben zu können. Er nennt Schulz nicht namentlich. Offenbar zielen die Sätze auch auf Andrea Nahles, von der Gabriel weiß, dass sie ihn kaum wieder im Kabinett wird unterbringen wollen - egal ob Schulz Minister werden will oder nicht.

Schulz ist da schon daheim in Würselen. Eigentlich will er ein paar Tage Ruhe. Doch er sieht, welche Resonanz Gabriels Sätze haben - der Streit zwischen beiden ist das Top-Thema, er verdrängt die Debatte über die Inhalte des Koalitionsvertrags völlig. Schulz erfährt zudem über den Unmut im NRW-Landesvorstand. Er ruft Groschek an. Der Landeschef schildert ihm die Lage. Gleichzeitig kabeln führende Politiker der NRW-SPD an die Mitglieder der engeren Parteiführung, wie dramatisch aus ihrer Sicht die Situation ist und wie sehr die Diskussion um Schulz die ohnehin unberechenbaren SPD-Mitglieder in ihrem Land verunsichert. Die Ansage: Entweder Schulz verabschiedet sich von seinen Kabinettsambitionen, oder wir machen unseren Unmut öffentlich.

Am Freitagvormittag kommt es zu hektischen Telefonkonferenzen der engeren Parteiführung und des Präsidiums - mit Schulz. Weitere Landesvorsitzende schildern, wie die Stimmung an ihrer Basis ist. Verbreitet ist die Sorge, dass die Personaldebatte für das Mitgliedervotum hochgefährlich ist. Der allgemeine Eindruck in der SPD-Spitze ist: Es geht nicht anders, Schulz muss sich von seinen Ministerplänen verabschieden. Schulz ist verärgert darüber, dass die SPD-Spitze eine gemeinsame Verabredung nach 48 Stunden schon wieder einkassiert.


Aber er willigt ein und verfasst am frühen Nachmittag ein Statement. Durch die Diskussion um seine Person sehe er ein erfolgreiches Votum über die Große Koalition gefährdet. "Daher erkläre ich hiermit meinen Verzicht auf den Eintritt in die Bundesregierung und hoffe gleichzeitig inständig, dass damit die Personaldebatten innerhalb der SPD beendet sind", schreibt Schulz - und besiegelt damit sein Ende in der Spitzenpolitik.

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